Achtsamkeit in der Schule

Mittwoch, 23. November 2022

MARAH RIKLI, ZÜRICH

«Guten Morgen, so schön, euch alle zu sehen!», ruft die Lehrerin Branka Rezan aus dem Fenster des ersten Stocks auf den Pausenplatz hinunter. Es ist ein Dienstag im November um kurz vor halb neun. Die Schülerinnen und Schü- ler vom Schulhaus Seefeld in Zürich haben sich wie jeden Morgen draussen besammelt. «Ein Überbleibsel aus der Corona-Zeit. So können die Kinder noch etwas ankommen, bevor der Unter- richt beginnt», sagt die Primarlehrerin. Rituale sind Rezan und ihrer Stellen- partnerin Therese Affolter sehr wichtig:

«Dadurch geben wir den Kindern Sicherheit, schliesslich geht beim Lernen praktisch alles um eine gute Beziehung.» Die beiden Pädagoginnen unterrichten Zweitklässler im Alter zwischen sieben und neun Jahren – und zwar nach dem Konzept der Achtsamkeit.

Kinder von innen stärken

Von anderen Lehrpersonen bekommen die beiden Frauen oft zu hören, dass sie für solche Übungen keine Zeit hätten neben dem Unterricht. Das sei jedoch ein Missverständnis. Achtsamkeit finde nicht neben, sondern im Unterricht statt.

«Es ist eine innere Haltung», sagt Rezan. Wie das funktioniert, wird im Klassenzimmer schnell klar. «Zeigt einmal mit dem Daumen, wie es euch heute geht», sagt Rezan zu den Kindern. Die meisten zeigen mit dem Daumen sofort nachoben. Ein Mädchen aber weint:

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«Mir geht es schwierig.» Therese Affolter kniet sich zum Kind hin und gibt ihm die Hand, zusammen gehen sie nach draussen. Rezan bleibt mit den anderen Kindern im Kreis zurück. «Mein Grossvater ist in den Ferien gestorben», sagt ein Junge. Die Lehrerin antwortet: «Das tut mir sehr leid, das muss sehr schwierig gewesen sein.» – «Sie, ich habe meine Hausaufgaben vergessen!», ruft ein anderer Knabe dazwischen. Seit er sich in den Kreis gesetzt hat, wippt er mit den Beinen, kaut Fingernägel, hopst auf dem Stuhl auf und ab. «Ich auch, es war Halloween!», stimmt ein Mädchen mit ein. Rezan sitzt noch immer ruhig in der Mitte und lächelt: «Wir schauen später.»

Kinder von innen stärken. Das ist das Ziel der 50-Jährigen. Rezan ist nicht nur Lehrerin, sondern auch Achtsamkeits- und Lerncoach. Sie sagt: «Wir stellen eine positive Lebenshaltung ins Zentrum, die Lernlust, Konzentration und auch das Selbstwertgefühl der Kinder erhöht.» Es sei ihr bewusst, dass bei Achtsamkeit viele Menschen an Kuschelpädagogik dächten. Doch achtsamer Unterricht heisse nicht, keine Leistung zu erbringen, im Gegenteil: «Diese Kinder hier leisten sehr viel. Sie erfüllen alle die Lernziele des Lehrplans 21.» Und dies, obwohl einige besondere Bedürfnisse aufgrund von Lern- oder Verhaltensstörungen haben.

Das Konzept populär gemacht hat vor allem Jon Kabat-Zinn. Der amerikanische Molekularbiologe gründete in den 1970er Jahren die Stress Reduction Clinic, wo er die Zusammenhänge zwischen körperlichen Vorgängen und geistigen Aktivitäten erforschte. Sein Programm der achtsamkeitsbasierten Stressreduktion (Mindfulness-Based Stress Reduction, MBSR) findet in vielen Psychiatrien, Spitälern und auch immer mehr in Bildungsinstitutionen Beachtung.

Achtsamkeit erleichtert den Umgang mit Fehlern, Niederlagen und Her- ausforderungen – auch im Schulalltag. Davon sind Rezan und Affolter überzeugt. Eine Studie von Pro Juventute ergab: Viele Kinder und Jugendliche fühlen sich in der Schule gestresst und sind dadurch psychisch belastet. Ein gutes Schulklima und eine vertrauensvolle Beziehung zu den Lehrpersonen hingegen haben nicht nur auf die Psyche der Kinder eine positive Wirkung, sondern auch auf deren Schulleistungen. Was heisst das konkret – im Unterricht?

Therese Affolter kommt mit dem Mädchen ins Klassenzimmer zurück. Später wird es erklären, dass es seine Brille zu Hause vergessen habe. Doch jetzt beginnt erst einmal der Unterricht. Deutsch steht auf dem Stundenplan. Und es ist Teamteaching-Tag – die beiden Lehrerinnen geben die Stunde gemeinsam. Wie jede Woche liest Rezan eine Geschichte vor, die mit einer Lese- oder Schreibübung verbunden wird, um sprachliche Kompetenzen zu üben. Dazu gibt es eine passende Aufgabe, welche die mentale Stärke fördern soll. An diesem Dienstag handelt die Geschichte von einer unruhigen Klasse und einer Lehrerin, die ihren Schülern erklärt, wie wichtig Pausen sind.

«Können Sie ein bisschen langsamer lesen, bitte?», fragt ein Mädchen, das sich sichtlich anstrengt beim Zuhören.

«Ja, kann ich», sagt die Lehrerin und liest langsamer weiter. Dazwischen denken sie alle gemeinsam über den Text nach, üben Textverständnis und suchen Synonyme. «Wisst ihr, was ein Signal ist?», fragt Branka Rezan. Mehrere Schülerinnen strecken auf. Die Lehrerin zeigt auf die Kleinste in der Runde. «Ein Zeichen.» – «Ja, und möchtest du uns zeigen, was wir für ein Signal erklingen lassen, wenn alle zuhören sollen?», fragt die Lehrerin weiter. Das Mädchen nickt, geht zur Klangschale und lässt einen Gong erklingen. Der Junge, der seit Beginn mit den Beinen wippt, wird noch unruhiger. Therese Affolter stellt sich hinter ihn. Jetzt wippt er weniger. Es fällt auf, dass die Lehrerinnen die Antworten und Fra- gen der Kinder nicht werten. Es gibt kein Richtig oder Falsch. Und sie korrigieren die Schüler auch nicht mit einem «aber».

Zu einem achtsamen Unterricht gehört auch das Raumkonzept. Bei Rezan und Affolter stehen nur wenige Pulte im Schulzimmer. Dafür gibt es viele Alternativen: zum Beispiel tiefe Holzbänke, die zu Tischen umfunktioniert werden können. Die Lehrerinnen sind überzeugt, dass dies den Kindern hilft, sich länger zu konzentrieren. Die Kinder wählen selbst, was sie bevorzugen, um ihre Arbeiten zu erledigen. Am Tisch sitzen, am Boden knien, am Fenster stehen oder auf dem Wackelbrett balancieren. Es gibt viele Möglichkeiten und Rückzugsorte.

«Rümpfen wir jetzt alle einmal die Nase, wie der Junge in der Geschichte.», sagt Affolter plötzlich. Die Kinder schnaufen und rümpfen die Nase, atmen dadurch schneller ein und aus. Dann fährt die Lehrerin fort: «Denkt an einen Luftballon, schliesst eure Augen. Jetzt packt ihr alle eure Ängste und Sorgen in den Luftballon, dann lasst ihr ihn wegfliegen. Und jetzt atmet tief ein, als sei euer Bauch auch ein Ballon. Luft rein, Luft raus! Alle Sorgen sind im Luftballon und fliegen davon!» Alle atmen laut und halten ihre Hand auf den Bauch. «Und nun sagen wir alle zusammen den Satz aus der Geschichte: ‹Pausen sind wichtig, sie machen mich stark.›» Jetzt wird es laut im Klassenzimmer, die Kinder sprechen im Chor: «Pausen sind wichtig, sie machen mich stark!»

Matthias Rüst von der Organisation Achtsame Schulen Schweiz schreibt auf Anfrage: «Oft ist es schwierig, ganze Schulteams von einer Weiterbildung zu überzeugen, viele haben Vorurteile gegenüber Achtsamkeit.» Die Organisation bietet daher auch einzelnen interes- sierten Lehrpersonen Kurse an. In den vergangenen drei Jahren haben 400 Lehrerinnen und Lehrer an den Weiterbildungen teilgenommen.

Auf die Frage, ob Achtsamkeit nicht einfach ein neuer Trend sei, antwortet Rüst: «Vielleicht ist Achtsamkeit als Schlagwort ein Trend, aber dass wir unser Bewusstsein für uns selber vertiefen, ist heute eher eine Notwendigkeit.» Er könne sich keine Menschheit vorstellen, in der Selbstwahrnehmung nicht von grosser Bedeutung sei. «Mit der Techno- logisierung werden solche Kompetenzen immer wichtiger. Sonst kennen uns die Algorithmen der grossen Tech-Firmen bald besser als wir uns selbst.»

Zurück bei den Zweitklässlern im Schulhaus Seefeld. «Zum Schluss könnt ihr euch einen Titel überlegen für die Geschichte, die ihr gehört habt. Alles ist erlaubt. Alle Ideen sind willkommen», sagt Rezan. Die Kinder heben die Hand. «Das stille Klassenzimmer!» – «Die magische Schule!» – «Zwei stille Klassenzimmer – das in der Geschichte und unseres!» Das Mädchen, das am Anfang der Stunde weinen musste, schlägt den Titel «Om» vor. «Alle Ideen gefallen mir», sagt Therese Affolter. Ein anderes Mädchen fragt, für welchen Titel sie sich denn nun entscheiden sollten. Man solle alle auf einen Zettel schreiben und abstimmen. Dann steht die Schreibübung an. Die Kinder fassen die Geschichte an ihrem Platz auf einem Blatt Papier zusammen.

Alle wirken motiviert. Doch Streit und Konflikte kämen durchaus öfters vor, erzählen die beiden Lehrerinnen. Und es gebe immer einmal wieder Tränen. Achtsamkeit heisse nicht, immer glücklich sein zu müssen – im Gegenteil: Es heisse, den Umgang mit allen Gefühlen zu lernen, auch mit den negativen. Das helfe sowohl bei Krisen im Leben als auch beim Lernen.

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Liebe Grüsse, Branka

Branka Rezan

 

Broschüre: Achtsamkeit und Wachstumsdenken – Weiterbildungen für Schulen

Flyer: Vorträge für den Elternrat

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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